Die typischen wirksamen Inhaltstoffe von heutigen Zahncremes sind abrasive Putzkörper, Detergentien für die Schaumentwicklung, Fluoride zur Härtung des Zahnschmelzes, manchmal auch antibakterielle Substanzen. Mit denen bürsten, schäumen und desinfizieren wir uns den Zahnbelag von den Zähnen. Aber aufgepasst, dass nicht der Zahnschmelz gleich mit weggeschrubbt wird: Schmelzerosion sehen Zahnärzte heute ähnlich häufig wie Karies…

Offensichtlich ist da noch Raum für Verbesserungen. Und deshalb gibt es auch immer mal wieder eine Zahncreme, die bisherige Ideen auf den Kopf stellt. In einem früheren Beitrag ging es um Zahncremes mit Hydroxylapatit – Nischenprodukte mit dem Anspruch, der Schmelzerosion Einhalt zu gebieten. Hier habe ich eine weitere Neuigkeit für Sie.

Eine Zahncreme, die alles ändern will

Im Sommer 2016 wurde der milliardenschwere Staubsauger-Fabrikant James Dyson vom Wall Street Journal nach seinen Lieblings-Technikprodukten gefragt. Neben einem überdesignten Fahrrad, dem RangeRover 2015, einem elektrischen Bleistiftanspitzer und ein paar anderen Gadgets nannte der Unternehmer überraschend auch eine neuartige Zahnpasta.

Das Zahngel, das James Dyson so beeindruckte, heißt Livionex. Es verwendet, so erklären seine Hersteller – ein Start-up im kalifornischen Silicon Valley – eine nie dagewesene Methode zur Plaque-Kontrolle. Livionex zeigt dem klassischen Inhaltsstoff-Quartett der marktdominierenden Zahncremes komplett die kalte Schulter: kein Fluorid, keine Putzkörper, kein Schaum, kein Triclosan. Statt durch unspezifisches Schrubben und Schäumen soll Livionex den Plaque-Biofilm auf der molekularen Ebene gezielt auf Korn nehmen.

(Fast) nur EDTA und Pfefferminzgeschmack

Als einziges aktives Ingrediens enthält Livionex eine Chemikalie namens Edathamil. Um den Kunden langatmige Erklärungen zu ersparen, wird der Stoff in Werbetexten einfach als “wirksames Antioxidans” bezeichnet. Aber Edathamil ist nicht als Fänger freier Radikaler in der Zahngel-Rezeptur… Sondern als Calcium-Fänger.

Unter anderem Namen ist das mysteriöse Edathamil wohlbekannt: Es handelt sich um EDTA, einen Zusatzstoff, der in der biologischen und medizinischen Forschung und Laboranalytik häufig eingesetzt wird, ebenso in Kosmetik und Haushaltschemie. EDTA ist ein sogenannter Komplexbildner, der zwei- und mehrfach positiv geladene Ionen wie Calcium, Eisen und Schwermetalle bindet. EDTA wirkt zum Beispiel als Wasserenthärter in Waschmitteln oder verhindert die Bildung von unansehnlichen Niederschlägen und Verfärbungen in kosmetischen Flüssigkeiten. Zahnärzte verwenden EDTA-Lösungen zum Spülen freigelegter Wurzelkanäle.

Mit Calcium bildet EDTA sehr stabile Komplexe – und darauf beruht seine Wirkung auf Plaque.

Bekannt aus der Biofilmforschung – EDTA löst Biofilme auf

Plaque ist ein Biofilm. Und EDTA ist in der Biofilmforschung kein Unbekannter. Es gibt zahlreiche Studien (hier ein Übersichtsartikel), die überzeugend belegen, dass EDTA die Bildung von Biofilmen (zum Beispiel in Katheter- und Infusionsschläuchen, in Wunden, auf Kontaktlinsen) verhindern und vorhandene Biofilme auflösen kann.

Das geschieht, indem EDTA dem Biofilm Calcium entzieht. Der Verlust des offenbar als Haftvermittler wirkenden  Minerals macht den Biofilm wasserlöslich, und er lässt sich samt Bakterien leicht und vollständig entfernen. Die Idee, dass EDTA auch auf Plaque wirken könnte, liegt nahe. Livionex stützt sich hier also auf grundsätzlich solide wissenschaftliche Erkenntnisse.

In kleinen Studien getestet

Zwei kleine Studien von 2014 und 2016 konnten den Effekt von Livionex auf Zahnbelag demonstrieren. Im Vergleich mit der konventionellen Zahncreme Colgate Total war Livionex bei 22 beziehungsweise 25  Anwendern, die drei beziehungsweise vier Wochen damit putzten, etwa doppelt so wirksam: Die Probanden hatten deutlich weniger Plaque, und ihr Zahnfleisch zeigte weniger Entzündungssymptome.

Aber Zähne brauchen Calcium…

Das ist ermutigend. Nur: Infusionsschläuche brauchen kein Calcium, Zähne schon. Das Mineral ist Bestandteil des Zahnschmelzes. Was, wenn die neue Zahncreme nicht nur dem Zahnbelag Calcium entzieht? Was, wenn sie auch den Zahnschmelz angreift? Oder die Calciumkonzentration im Speichel herabsetzt?

Eine weitere Veröffentlichung adressiert diese Frage und untersucht, wieder nur in kleinem Rahmen, die Remineralisierung von Schmelzdefekten nach dem Putzen mit Livionex. Hier trugen neun Versuchspersonen auf Plastikschienen montierte Schmelzpräparate im Mund. Die Präparate waren zuvor in einem Säurebad leicht demineralisiert worden. Die Probanden putzten ihre Zähne und die Schmelz-Scheibchen mit Livionex beziehungsweise Colgate Total und behielten die Präparate danach noch vier Stunden im Mund. Nach wiederholter Durchführung dieser Routine fand sich bei der abschließenden elektronenmikroskopischen Untersuchung der Schmelzscheibchen kein systematischer Unterschied zwischen Livionex und konventioneller Zahncreme: Der Schmelz der Präparate wurde jeweils etwa gleich gut remineralisiert.

Ist Livionex wirklich die Zahnpasta der Zukunft?

Diese auf jeden Fall interessanten Ergebnisse sind zum jetzigen Zeitpunkt trotzdem wenig mehr als plausible Spekulationen. Größere und langfristige Studien zum Effekt der EDTA-haltigen Zahncreme auf Plaque, Zahnschmelz und Karieshäufigkeit müssen zeigen, ob Livionex wirklich das Zeug dazu hat, eine neue Zahnhygiene-Ära einzuläuten. Und wer sollte diese Studien finanzieren?

Ohne weitreichende Belege wird es den Herstellern kaum gelingen, die zahnärztlichen Fachgesellschaften zu einer Empfehlung zu bewegen – und wenn, dann vermutlich für die Anwendung in Kombination mit einem fluoridhaltigen Produkt.


(Foto: © Ollyy, shutterstock.com)

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